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Kurve kriegen ist wirkungsvoll und erfolgreich, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Und dennoch verlaufen Teilnahmen manchmal höchst unterschiedlich. Bei den meisten funktionieren sie sehr gut, bei einigen aber so ganz und gar nicht. Liebe Leserinnen und Leser, ich möchte Sie mit der folgenden kurzen Geschichte an zwei Verläufen teilhaben lassen, die – obwohl es sich in diesem Fall sogar um Brüder handelt – unterschiedlicher nicht sein könnten. Im Grunde unterstreichen sie zwei Binsen, die uns aus der langjährigen Arbeit gut bekannt sind.
- Erstens: 100% Erfolg gibt es nicht.
- Zweitens: Was für den einen die perfekte Maßnahme ist, muss dem anderen noch lange nicht helfen.
Also, kommen Sie mit und begleiten Sie mich durch diesen wirklich bemerkenswerten Fall. Auf geht’s.
Die Familiensituation
Die zwei Brüder A und B wuchsen, gemeinsam mit zwei weiteren Geschwistern zunächst bei beiden Elternteilen auf. Ein Fall häuslicher Gewalt durch den Vater änderte diese Situation nachhaltig. Die Mutter floh mit ihren Kindern ins Frauenhaus und im weiteren Verlauf überschatteten Sorgerechtsstreitigkeiten die familiäre Situation. Die beiden Jungen lebten in dieser Phase auch eine Weile bei ihrem Vater. Eine Zeit, in der die beiden – so wie sie es mir sehr eindrucksvoll schilderten – die „Hölle durchmachten“.
Schläge, Vernachlässigung, Missbrauch, psychische Gewalt…am Ende waren es acht unerträgliche und – so wie ich denke – prägende Monate für die beiden.
Nach langem und aufreibendem Kampf dann endlich das alleinige Sorgerecht für die Mutter. Sie zog mit ihren Kindern in der Hoffnung um, Ruhe zu finden und zunächst lief das auch ziemlich gut. Die Mutter begann in der Altenpflege zu arbeiten und war ihren Kindern eine liebvolle Mutter. Alle Geschwister hielten zusammen und unterstützten sich gegenseitig. Auch die beiden Brüder A und B waren unauffällig, ihr Umgang anderen gegenüber respektvoll und hilfsbereit. Doch die Vergangenheit forderte ihren Tribut und holte die Familie ein. A zeigte erste Auffälligkeiten. Eine leichte Entwicklungsverzögerung mit emotionalen Störungen wurden bei ihm diagnostiziert. Der Junge wurde auf eine Förderschule geschickt, und das demotivierte ihn. Es kam zu weiteren Verhaltensstörungen.
Keine Therapie, keine Unterstützung. Schule schwänzen stand von nun an auf der Tagesordnung. Rumgammeln in der Stadt war die neue Beschäftigung. Nichts tun - Langeweile. Der Junge driftete ab. Die Mutter versuchte zu helfen, doch er war längst nicht mehr erreichbar. Es kam wie es häufig kommt. Man lernt Gleichgesinnte kennen. Die Spirale setzt sich in Bewegung. Gemeinsames Abhängen, gleiche Interessen, man verstand sich und schnell mutierte diese neue Peer zu einer Art „Gang“ und plötzlich spielte Kriminalität eine größer werdende Rolle.
Die Geschichte von Bruder B ist an dieser Stelle schnell erzählt: Sportlich sehr aktiv, im Verein angebunden und ein guter Schüler. Zunächst kein Sorgenkind.
Der Weg von Bruder A
A war 12, als seine „kriminelle Karriere“ in den Starlöchern stand. Zunächst hier ein Diebstahl, dort ein Diebstahl. Immer Kleinkram, wie Süßigkeiten oder Getränke. Wir wurden auf ihn aufmerksam und nahmen ihn in die Initiative auf. Trotzdem nahm sie Fahrt auf, seine Karriere. Hausfriedensbruch, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Einbrüche und ganze Einbruchsserien bis hin zu räuberischen Erpressungen und räuberischen Diebstählen. Ambivalent war, das er Maßnahmen und Hilfen, die wir ihm im Rahmen der Initiative anboten, dankend annahm und gut mitwirkte. Er ging über einen längeren Zeitraum regelmäßig zum pädagogischen Boxtraining, versuchte sich mit Bouldern und bekam zeitweise Nachhilfe, um Verpasstes wieder aufzuholen. Er probierte diverse Angebote aus, nahm gerne an Freizeitaktivitäten teil, ging mit zur Maisernte oder zum Erdbeerpflücken. Eigentlich ein Kind, dass seinem Alter entsprechend war. Bei Gesprächen immer sehr einsichtig und vielversprechend, aber kaum aus der Tür und in seiner Peer: Eine Straftat nach der anderen. Er setzte seine Prioritäten falsch und richtete sich nach seinen „Freunden“. Er handelte nach deren Verhaltensmustern. Jegliche Beratungen und Unterstützungen scheiterten letztendlich daran, dass er sich immer mehr ihnen beeinflussen ließ und Aufklärungen bzgl. seines Verhaltens abwehrte.
Alleine, ein verängstigter, gut erzogener Junge, in der Peer ein echter Gangster. Drei Monate U-Haft- keinerlei Wirkung. Nach dem Wechsel in die U-Haftvermeidung ging es weiter wie zuvor. Es folgten eine weitere Inhaftierung, mehrere Aufenthalte in Camps und Wohngruppen – nichts brachte den Jungen zurück auf Kurs. Bei jedem Kontakt mit ihm (und es waren sehr viele), zeigte oder spielte er Reue, weinte und versprach Besserung - um dann den Dreh doch nicht kriegen.
Ja, es ist schwer sich von sogenannten „guten Freunden“ zu distanzieren, wenn es allen nicht gut geht. Ob mental oder finanziell, alle teilten das gleiche Leid. Egal ob unser Teilnehmer oder die Peer, Geld spielte eine große Rolle. Es mussten immer die neuesten Markenklamotten sein, am besten sofort…und wenn es die Eltern nicht besorgen konnten, dann ging man eben klauen oder zog es anderen ab. Hauptsache Kohle und Image. Das erstrebenswerte Leben, vorgegaukelt durch Social Media wie TikTok, Snapchat, Facebook und Co. Und unsere Jungs, die Follower, allerdings mit eigenen Mitteln. Immer nach dem Motto, die anderen haben genug, wir haben nichts.
Vorläufiges Ergebnis für Bruder A: Ein Jahr und sechs Monate Jugendstrafe auf Bewährung.
Aktuell ist er noch „auf freiem Fuß“, weiterhin delinquent und inzwischen auch nicht mehr in „Kurve kriegen“ sondern als Intensivtäter statuiert und ins Intensivtäterprogramm der Behörde aufgenommen.
Eine Niederlage für „Kurve kriegen“? Mitnichten! Wir, die Fachkräfte der Initiative versuchen alles, bleiben dran und beißen uns fest - aber 100 %igen Erfolg gibt es nun einmal auch bei uns nicht.
Der Weg von Bruder B
Bruder Nummer B, zwei Jahre älter als Bruder A war ebenfalls durch einige wenige Delikte aufgefallen. Sachbeschädigung und Fahren ohne Fahrerlaubnis standen in seiner „Bewerbung“ für die Teilnahme an der Initiative „Kurve kriegen“. Im Grunde nicht viel und eher jugendtypisch, aber der Umstand, dass wir die Geschichte von A kannten und B zudem ebenfalls in einer Peer war, die ihm nicht guttat, veranlassten uns, ihm bzw. der Mutter auch die Teilnahme an „Kurve kriegen“ anzubieten.
B ist ein ruhiger, vernünftiger junger Mann, der eigentlich außer Fußball nichts im Sinn hatte. Leider ließ auch er sich von seiner Peer stark beeinflussen und wurde in diesem „Team“ zum Mitläufer. Hinzu kam, dass er wegen der vielen Aufmerksamkeit, die seinem Bruder innerhalb der Familie geschenkt wurde/werden musste, stark darunter litt, nicht gesehen zu werden. Er flog, wenn man so mag, familiär „unter dem Radar und litt darunter. Seine Kompensationstrategie – bis wir ins Spiel kamen – Abhängen mit den falschen Kumpels.
Allerdings nahm er im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder unsere Unterstützung sehr gut und nicht nur vordergründig an. Er ließ sich auf diverse Aufklärungsgespräche und Verbesserungsvorschläge ein, setzte diese um und erreichte die mit ihm ausgehandelten Ziele. Für ihn war die Beziehung zu mir, die Face-to-Face Arbeit der Schlüssel zum Erfolg. Nicht aufwändige Trainings und teure Maßnahmen sondern die tragfähige Beziehung zu mir war hier der Kern vom Kern. Hinzu kam bei ihm die Angst, so zu „enden“ wie sein Bruder. Er wollte nicht in den Knast. Er verstand, dass wenn er seinen „Freundeskreis“ nicht verließ, es zwangsläufig weiter bergab gehen würde. Er schaffte es, sich von ihnen zu distanzieren und Kriminalität spielte in seinem Leben plötzlich keine Rolle mehr.
Schulisch hatte er als einer der besten seines Jahrgangs die Hauptschule abgeschlossen und ist aktuell dabei, seine Mittlere Reife zu erlangen. Es soll inRichtung Bundeswehr oder evtl. Polizeidienst gehen. Daran arbeitet er hart und scheut sich auch nicht, Nebenjobs in der Pflege oder am Fließband anzunehmen.
Wir konnten ihn mit sehr positiver Prognose und bestem Gewissen aus der Initiative entlassen – er hat die „Kurve gekriegt“.
Aber, aus der Initiative ist nicht aus dem Sinn. Er meldet sich regelmäßig bei mir und es gibt immer das ein oder andere, was wir miteinander besprechen.
Das Fazit
Die Zielgruppe in Kurve kriegen ist schwierig - schwer zu erreichen, widerspenstig, erfahren im Umgang mit sozialer Arbeit. Das macht es uns nie leicht. Aber um es leicht zu haben, sind wir auch nicht angetreten. Das ist, wenn man so mag nicht unser Geschäftsmodell. Wir stellen uns den Herausforderungen, nein im Grunde suchen wir gezielt danach. Und dabei ist Scheitern eingepreist - in den allermeisten Fällen aber haben wir Erfolg. Und das motiviert uns, auch den nächsten Fall mit voller Energie anzugehen.