Portrait Reto Maag

Als ich im Mai 2022 zum Steuerungsteam der Initiative „Kurve kriegen“ stieß, war ich einerseits begeistert von der hier umgesetzten Idee dieser engen Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit / Sozialpädagogik im Bereich der Bekämpfung von Jugendkriminalität, andererseits blieb eine gewisse Skepsis dahingehend vorhanden, ob das wirklich so gelingt, wie „auf Papier“ ausgewiesen.

Klar, es ist mittlerweile hinlänglich bekannt und auch im Fachdiskurs erörtert worden, dass die Polizei - mitunter vorangetrieben durch deren Hinwendung zum Thema Prävention in den letzten Jahrzehnten (Stichwort „Präventive Kehre“) - sich der Sozialen Arbeit / Sozialpädagogik, trotz durchaus nicht immer konfliktfreier Vergangenheit, angenähert hat. Auch seitens der sozial tätigen Institutionen wurden Vorbehalte sowie gewisse Vorurteile offensichtlich abgebaut und es stellte sich die Erkenntnis ein, dass - insbesondere im Feld der Jugendkriminalität - die Überschneidungen der Zielgruppe groß sind und gemeinsame Ziele eine Kooperation nicht nur ermöglichen, sondern eigentlich erfordern.  

Dennoch: auf der einen Seite steht die Soziale Arbeit, die sich als Profession versteht und durch das sogenannte Triple Mandat, das Spannungsfeld bzw. Dilemma des Doppelmandats aus Hilfe (Anspruch der Klientel) und Kontrolle (Anspruch des Staates) dadurch aufzulösen versucht, in dem sie ihre Handlungsmaximen wissenschaftlich fundiert, eigene Theorien begründet und sich selbst einem Ethikkodex verschreibt, der auf den allgemeinen Menschenrechten und universalen Gerechtigkeitsprinzipien fußt. Ihr Auftrag ist oft wenig festgelegt und teilweise auch umstritten. Und dem gegenüber steht die Polizei, deren gesellschaftlicher Auftrag strikt im Gesetz fixiert und verankert ist und die sich im Kern auf zwei Bereiche, nämlich die (präventive und akute) Gefahrenabwehr sowie die Strafermittlung und -verfolgung fokussiert. Die streng hierarchisch organisierte und von vertikalen Machtstrukturen durchzogene Polizei ist in ihrem beruflichen Selbstverständnis grundsätzlich darauf ausgerichtet, Kriminalität repressiv in den Griff zu bekommen und damit einhergehend die öffentliche Ordnung herzustellen und / oder Sicherheit zu garantieren. Die Arbeitsabläufe sind (notwendigerweise) stark formalisiert und standardisiert.  Auch Polizeiarbeit ist jedoch ständigem Wandel unterworfen und die Polizeiverfassungen sind heute Teil einer „dynamischen Unübersichtlichkeit“. Die Schutzfunktion wird jedoch - wie bereits angesprochen - zunehmend seitens der Polizei nicht mehr nur interventiv, sondern eben auch präventiv interpretiert.  

Nun haben sich auch deshalb in den vergangenen Jahren unterschiedlichste Kooperationen zwischen der Polizei und der Sozialen Arbeit bzw. sozialpädagogisch agierenden Akteuren ergeben. In einer solch institutionalisierten und mittlerweile auch etablierten Weise wie in „Kurve kriegen“ scheint dies bisher jedoch kaum der Fall gewesen und einzigartig zu sein. Zumindest war das für mich, in dieser Konstellation, ein unbekanntes Phänomen. Und um die Antwort auf die Frage, ob diese Kooperation denn auch über einen längeren Zeitraum hinweg funktionieren kann, vorweg zu nehmen; es kann und tut es im Rahmen der Initiative auch.  

Was ich bisher in „Kurve kriegen“ erlebt, bzw. wie ich die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den Kreispolizeibehörden wahrgenommen habe, war geprägt von einem gegenseitigen Respekt der unterschiedlichen Disziplinen und Berufsgruppen, von gelingender Kooperation und von einer Fruchtbarmachung der Differenzen, statt einem Beharren auf eigenen Standpunkten. Und das alles ohne, dass die jeweilige Rolle im professionellen Handeln unklar oder diffus würde. 

Ich hatte zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, die einen würden die Arbeit der anderen innerhalb der Fachkräfteteams geringschätzen oder in einer Grundsätzlichkeit in Frage stellen. Im Gegenteil, es herrscht(e) große Einigkeit hinsichtlich der gemeinsamen Erreichung der Ziele der Initiative. Und es machte für mich auch nicht den Anschein, als wären die polizeilichen Akteure in ihrem Denken und Handeln - wie teilweise in der sozialwissenschaftlich-kriminologischen Fachliteratur kolportiert - in einem starren Sicherheitsdenken verhaftet und damit in erster Linie auf (öffentliche) Ordnung und Sicherheit getrimmt, was wiederum einer (sozial-)pädagogischen Herangehensweise, - zu großen Teilen - zuwiderlaufen würde. Diese muss nämlich qua ihrem professionellen Selbstverständnis das Wohl der Kinder- und Jugendlichen, deren subjektive Entfaltung, die Ermächtigung im Sinne einer Geltendmachung legitimer bio-psycho-sozialer Bedürfnisse sowie den Blick auf soziale Ungerechtigkeiten ins Zentrum stellen. Ich erlebte freilich Polizistinnen und Polizisten in den Teams mit den pädagogischen Fachkräften, die einen ganzheitlichen Blick auf die Problemlagen und Lebenssituationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer entwickelt haben. Und es waren im Speziellen Angehörige der Polizei, die mir in persönlichen Gesprächen mitteilten, wie sich ihr Blick auf diese jungen Menschen durch ihre Arbeit in „Kurve kriegen“ auch veränderte. Es sei ihnen bewusst(er) geworden, dass diese Kinder und Jugendlichen mitunter Produkt ihrer genetischen- wie umweltbedingten Einflüsse sind und deshalb teilweise bereits in jungen Jahren einen „Rucksack“ mit sich rumtragen, wie es andere Menschen ein ganzes Leben lang nicht müssen. Es steht stets das Kind oder der jugendliche Mensch als Teil (s)einer sozialen Eingebundenheit im Zentrum, wobei „Kurve kriegen“ im Schnittpunkt von Individuum und sozialer Umwelt agiert. Arbeit mit Täterinnen und Tätern, Opferschutz, Sicherheit, Rückfallprävention, Entfaltung der Persönlichkeit, Selbstbildungsprozesse, Ermöglichung gelingender Lebensvollzüge usw. - all das das hängt im Kontext von „Kurve kriegen“ miteinander zusammen und / oder bedingt sich gegenseitig. 

Allein schon bei einer genaueren Betrachtung solch vielschichtiger und breit diskutierter Begriffe wie „Jugend“, „Kriminalität“ oder „Devianz“ wird schnell klar, dass es sich beim Gegenstand von „Kurve kriegen“ um multikausale, hochkomplexe und immer einmalig ausgeprägte Problemlagen handelt, deren Bearbeitung eine multiperspektivische Herangehensweise erfordert. Und meines Erachtens kann dieser Anforderung nur Rechnung getragen werden, wenn interdisziplinär kooperiert und untereinander wertschätzend, offen und transparent kommuniziert wird. Schwarzweiß-Denken oder Horizonte, die am eigenen Tellerrand ihre Grenze erfahren, helfen da nicht weiter.  

Und genau das - so mein Eindruck - gelingt im Rahmen der Initiative „Kurve kriegen“ sehr gut. Es scheint als wären hier Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut, Klischees und stereotypes Denken aufgebrochen und alte Grabenkämpfe endgültig überwunden worden.



Quellen:

Pütter, N. (2022). Soziale Arbeit und Polizei. Kohlhammer. Stuttgart.

Staub-Bernasconi, S. (2007). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. UTB. Stuttgart.

Möller, K. (2018). Soziale Arbeit und Polizei bei der Bearbeitung von Jugendkriminalität - Kooperation trotz Unterschiedlichkeit. In: Dollinger, B. & Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität. Interdisziplinäre Perspektiven. 3. Auflage. Springer VS. Wiesbaden. S. 427 -442.

Pütter, N. (2022). Soziale Arbeit und Polizei. Kohlhammer. Stuttgart. S. 34