„Kurve kriegen“ macht Sinn, ist zielführend und ein Erfolgsmodell - wenn die Aufgaben der Beteiligten klar und deutlich abgrenzbar sind.

    Der junge Klaus Fröse in einem Waldstück

    Ich bin 1955 geboren und hatte Mitte der 60er Jahre eine Fernsehserie über einen Bewährungshelfer gesehen. Anschließend war mein Berufswunsch klar, ich möchte solch ein Bewährungshelfer werden. Nach Abschluss der Schule absolvierte ich zunächst eine Handwerksausbildung, da ich mit meinem Hauptschulabschluss kein Studium aufnehmen konnte.

    Die Idee zu studieren und einen Beruf zu ergreifen, in dem ich anderen Menschen „helfen“ konnte, habe ich während dieser Zeit nie ganz abgelegt. Also habe ich die notwendigen Schulabschlüsse nachgeholt und konnte Anfang der 80er Jahre mit dem Studium der sozialen Arbeit beginnen. 

    Zwischenzeitlich hatte sich mein Berufswunsch konkretisiert. In einer Gesellschaft wird es immer Menschen geben die gegen Regeln und Normen verstoßen oder wie ein damaliger Justizminister es formulierte: Jede Gesellschaft hat die Kriminalität, die sie auch verdient. Die Kausalität, Menschen dann aufgrund des Verstoßes ein – bzw. wegzusperren, erschloss sich mir nicht, denn: kein Mensch kommt auf die Idee, in der Wüste schwimmen zu lernen. Und warum sollten Menschen, wenn sie eingesperrt sind, über ihr Handeln und eventuelle Handlungsalternativen nachdenken. Ich wollte konkrete Unterstützung und Begleitung anbieten, damit weniger Menschen mit den negativen Folgen einer Inhaftierung weggesperrt werden und sie in ihrem Umfeld bleiben können. Hier sollten sie eventuell angeregt werden ihre Lebenssituation und ihr damit zusammenhängendes Handeln zu überdenken. 

    Meine Überzeugung war es, dass es einer Gesellschaft nicht zusteht Menschen deren Freiheit zu berauben.  Ich habe mir direkt zu Beginn des Studiums einen Verein gesucht, in dem ich mich ehrenamtlich um Inhaftierte kümmern konnte. Neben der ehrenamtlichen Arbeit fand auch inhaltlich eine Auseinandersetzung mit dem Thema Kriminalität und Strafvollzug statt. Es wurde stundenlang diskutiert und auf Seminaren haben wir uns die Köpfe heiß geredet, was die Alternative zum Strafvollzug sein kann. Unsere „Bibel“ war damals „Überwindet die Mauern!“ von Thomas Mathiesen. Das Buch war eine Praxisanleitung für Mitarbeiter*innen in Instanzen sozialer Kontrolle, die ihre Aufgabe mit politischen Überlegungen und gesellschaftlichen Handeln verknüpfen wollten. Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ beeinflusste ebenfalls die hitzigen Diskussionen der Freien Straffälligenhilfe. 

    Ich möchte diese Zeit nicht missen. Es war klar wer die „Gegner“ sind und wir waren, besonders morgens um 04.00 Uhr, hoffnungsschwanger die Mauern der Vollzugsanstalten einzureißen. Bei den Gründervätern des Vereins war klar, keine Staatsknete -denn wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Unabhängigkeit war für uns damals ein sehr hohes Gut.

    Nun hatte ich im Studium aber erleben dürfen, dass pädagogische Maßnahmen im JGG unter dem Namen „Neue ambulante Maßnahmen“ Einzug gehalten haben. Ich war beseelt von der Idee, meine Gedanken jetzt praxisnah umsetzen zu können. Wir hatten nach langen vereinsinternen Diskussionen unsere Anträge gestellt und konnten mit dem ersten geförderten Projekt im Jahr 1985 beginnen.

    Drei Jahre später hat man mir die Geschäftsführung anvertraut. Alle Projekte, die in der Folgezeit entwickelt wurden, hatten das Ziel, benachteiligte und straffällige junge Menschen vor freiheitsentziehenden Maßnahmen zu schützen. Später wurde der Fokus teilweise auch auf Erwachsene erweitert. 

    Jetzt mit der Zunahme an Aufgaben und Notwendigkeiten konnte ich nicht mehr gesellschaftskritische Texte lesen, sondern musste Haushaltspläne studieren und politische Überzeugungsarbeit leisten. Hier half mir die Parole „reißt die Mauern ein“ nicht weiter, sondern ich musste Geldgeber und Förderer inhaltlich überzeugen. 

    Fachlich und sachlich tat sich im Laufe der Zeit auf verschiedenen Ebenen bereits etwas, aber auch politisch kam etwas in Bewegung. Ich hatte den Eindruck, mit dem Bericht der Enquetekommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine effektive Präventionspolitik in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2010, wurden unsere Ideen von damals mit aufgenommen. Das Kapitel 3, Primäre Prävention, machte sehr deutlich, wie sinnvoll Prävention in einem sehr frühen Stadium sein kann, letztendlich auch, um kostenintensive freiheitsentziehende Maßnahmen zu verhindern. Der Abschlussbericht, der parteiübergreifend verabschiedet wurde, enthielt 35 Handlungsempfehlungen. 

    Mit der Initiative „Kurve kriegen” wurde einer dieser Handlungsempfehlungen gefolgt: nämlich die Gruppe der Intensivtäter in den Blick zu nehmen. Ziel der Initiative bzw. des Projektes war und ist es, bereits frühzeitig in der Biografie gefährdete Kinder und Jugendliche mit geeigneten präventiven Maßnahmen zu versorgen. Hierbei spielen die Empfehlungen zur strukturellen Vernetzung der Hilfesysteme, fallbezogenen Koordination und klare Fallverantwortlichkeit eine zentrale Rolle. Eine Binsenweisheit für alle Praktiker*innen, aber real sehr schwer umzusetzen. 

    Der Verein soziale integrativer Projekte (ViP) konnte sich erfolgreich im Jahr 2016 auf die Trägerschaft der Initiative „Kurve kriegen“ für Münster bewerben. Und hier schließt sich wieder der Kreis und ich bin wieder in den 80er Jahren mit vielen Diskussionen über den Sinn von Hilfsangeboten. Wie kann das Innenministerium zuständig sein für pädagogische Präventionsarbeit. Die alte idealistische Vorstellung, mit nur genügend viel und guter sozialpädagogischer Arbeit ließen sich grundsätzlich persönliche Problemlagen und gesellschaftliche Missstände beheben, hat sich grundlegend geändert. Für Veränderungen sind eben viele Kooperationspartner zielführender. Wenn es den Betroffenen hilft, dann kann auch das Innenministerium ein förderlicher Kooperationspartner sein. Gut, dass die Argumente auf unserer Seite waren und wir mit dem Projekt „Kurve kriegen“ in Münster starten konnten. Ein weiterer Baustein im Portfolio des ViP um freiheitsentziehende Maßnahmen zu verhindern.

    Der 30.06.2021 war für mich ein besonderer Tag, weil ich nach 51 Jahren Arbeit dem Ruhestand entgegenblicken durfte. Als sich dann die Möglichkeit für den ViP ergab, einen neuen Standort für „Kurve kriegen“ in Borken zu übernehmen, konnte ich nicht widerstehen, meinen Rentenbeginn zu verschieben. Aus meiner Sicht als Geschäftsführer hatte ich einen guten Einblick in das Wesen von Kurve kriegen nehmen können und fand die Idee seinerzeit auch schon ideal. Jetzt noch einmal zurück zur Basis der sozialen Arbeit zu gehen und als Sozialarbeiter aktiv zu werden, das würde mein Arbeitsleben perfekt abrunden. Wir haben den Zuschlag zum 01.07.2021 erhalten. Vom Geschäftsführer „back to the roots“ zum Sozialarbeiter war ein anderes Gefühl von Glück, weil hier nicht die Verantwortung für eine ganze Einrichtung im Vordergrund stand, sondern die inhaltliche Arbeit mit Klient*innen. Auf einem landesweiten Treffen der Inititative „Kurve kriegen“ äußerte sich ein Mitarbeiter aus dem Ministerium dahingehend; „das wäre ja genau so, als ob ich vor meiner Pension noch einmal im Streifenwagen rechts sitzen würde“. Als Geschäftsführer schaut man auch auf die Wirtschaftlichkeit eines Projektes, jetzt ging es in erster Linie darum, so arbeiten zu können, wie ich mir einmal soziale Arbeit vorgestellt habe. Für junge Menschen verantwortlich sein zu können, weil sie es wollen und wert sind. Und nicht zuletzt so zu arbeiten, dass es zielführend und notwendig ist und dabei den Fokus nicht nur nach Kennzahlen oder ähnlichem zu lenken, sondern bedarfsgerechte Angebote vorzuhalten, anzubieten oder auch gemeinsam zu entwickeln. 

    Bei aller Euphorie hätte sich meine Begeisterung auch in Grenzen halten können, wenn die Rahmenbedingungen nicht so ideal gewesen wären. Wir wurden dem Kriminalkommissariat Kriminalprävention / Opferschutz zugeordnet. Die Ergänzungskraft und ich wurden sehr empathisch empfangen. Wir hatten unser eigenes sehr großzügig eingerichtetes Büro und die Kolleg*innen waren neugierig auf uns. Wir waren aber auch neugierig auf die neuen Kolleg*innen. Auch für sie war die Zusammenarbeit von Pädagogen und Polizeibeamten neu. Sie haben sich offen darauf eingelassen. Ich persönlich musste erst einmal eine Vielzahl von Abkürzungen aus dem polizeilichen Alltag erlernen (eine ganz persönliche Anmerkung; hilfreich für Externe wäre ein Handbuch der Abkürzungen im Polizeibereich. Ein „HdAiP“) Besonderes Glück hatten wir mit dem PAP. Ein Kollege der 90% seiner Arbeitszeit nur für das Projekt „Kurve kriegen“ verantwortlich einsetzen kann, ist ein Gewinn für die Initiative und von unschätzbarem Wert. 

    Wir haben uns umgehend eingearbeitet. Der PAP hat mögliche Teilnehmende durchleuchtet, wir haben anonym die Möglichkeit der Aufnahme diskutiert. Zu Beginn wurde jeder mögliche Teilnehmende besprochen. Das hat sich inzwischen normalisiert. Die PFK’s sind sehr zügig damit vorangegangen, zu möglichen Netzwerken Kontakte herzustellen. Bei der Vorstellung der Initiative sind wir auf Neugierde, Ablehnung, aber auch direkte Kooperationsangebote gestoßen. Wir haben diese Vorstellungen immer mit dem PAP und der PFK zusammen durchgeführt. Diese kooperativ paritätische Präsentation hat unsere unterschiedlichen Arbeitsansätze sehr deutlich und nachvollziehbar gemacht. Die ersten Kandidat*innen waren relativ schnell gefunden. Das Einholen der Einverständniserklärungen der Erziehungsberechtigten war nicht immer einfach und wurde auch nicht immer erteilt. 

    Ich möchte jetzt nicht auf die einzelnen Fälle eingehen. Aber ich erlaube mir ein paar Fakten zu benennen. Was alle Teilnehmenden eint sind Schulprobleme. Hier ist die Schule oft im Interesse der Teilnehmenden schon sehr weit mitgegangen, stößt aber irgendwann auch an ihre Grenzen. Was dann bleibt ist oft nur noch ein Schulverweis. Die Teilnehmenden sehen das nicht als Strafe, sondern als zusätzliche Ferienzeit. Wenn die Zeit des Verweises abgelaufen ist, kommen sie wieder in die Schule und nichts hat sich wirklich verändert, weil in dieser Zeit keiner da ist, der diese Problematik aufarbeitet. Hier habe ich als PFK die Möglichkeit in der Schule mit den Lehrenden und den Teilnehmenden moderierte Gespräche zu führen, nach Möglichkeiten für einen geregelten Schulablauf zu suchen und das zu begleiten. Dazu führe ich auch vorbereitende Gespräche mit den Erziehungsberechtigten. Das Gute an „Kurve kriegen“ ist, dass ich je nach Bedarf die Intensivität und die Häufigkeit der Kontakte individuell gestalten kann. Das was der jeweilige Teilnehmende und die Familie benötigt ist die Handlungsmaxime. Mein Auftraggeber ist immer bei Gesprächen dabei, oder weiß was besprochen wird, nicht jedoch der Financier der Initiative „Kurve kriegen“. Die Teilnehmenden und Familien spüren, dass ihre Interessen vertreten werden. 

    Die Betreuung ist prozesshaft angelegt und kann so jeder Zeit angepasst werden. Die Ziele sind sehr kleinschrittig formuliert, dafür aber nachvollziehbar. So kann der regelmäßige Besuch des Unterrichts das vorrangige Ziel sein, das ist für die Betroffenen einleuchtend und nachvollziehbar. Das Verhalten jedoch dahin gehend zu verändern, keine weiteren Straftaten zu begehen ist in diesem Zusammenhang eher abstrakt. Aber dass ein regelmäßiger Besuch zu weniger Straftaten führen kann birgt schon eine gewisse Logik, die dann im Nachhinein verstanden werden kann. 

    Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass viele der Teilnehmenden mit nur einem Erziehungsberechtigten, sehr oft die Mutter, aufwachsen. Wenn wir unser Angebot zur Teilnahme an der Initiative „Kurve kriegen“ machen, sind sie in der Regel froh, dass sich endlich jemand um sie und ihr Kind sehr zeitnah kümmert. Die ersten Gespräche sind häufig Einzelgespräche mit der Mutter, die sich bis dahin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel um die Erziehung gekümmert hat. Allerdings sind die Erziehungsmittel oftmals nicht sehr profiliert. Ich habe aber in keiner Familie eine Verwahrlosung oder ein Nicht-Kümmern erlebt. Wenn die ersten Gespräche mit den Teilnehmenden anstehen, habe ich immer wieder die Frage gestellt, ob wir das allein oder im Beisein von Mutter oder Vater durchführen sollen. Der Regelfall ist, dass sie wünschen, das Gespräch nicht allein zu führen. Wenn es zu einem vertrauensvollen Kontakt gekommen ist, finden die Gespräche immer häufiger ohne die Erziehungsberechtigten statt, wobei diese dann zu bestimmten Themen dazu gebeten werden. Wenn wir davon reden, dass ein Teilnehmender stationär untergebracht werden soll, geht das gar nicht ohne Mitwirken der Erziehungsberechtigten. Sollte es der familiären Situation entsprechend angebracht sein, werden auch weitere Kooperationspartner, wie z.B. das Jugendamt involviert. 

    Der pädagogische Werkzeugkasten der PFK ist sehr vielfältig und kann immer weiter ergänzt werden. Aber auch der PFK sind Grenzen gesetzt, sie ist nicht der absolute pädagogische Allrounder. In solchen Fällen haben wir als „Kurve kriegen“ die Möglichkeit der sogenannten Drittanbieter. Wir können hier unter Umständen Fachleute aus den Bereichen Freizeitpädagogik, Erlebnispädagogik, Sport, Medien etc. akquirieren und passgenau auf die Teilnehmenden zugeschnittene Maßnahmen konzipieren. Wer einmal im Zusammenwirken mit Mitarbeitenden einer Verwaltung ein solches Angebot versucht hat umzusetzen, wird die pädagogischen Freiheiten die „Kurve kriegen“ bietet schätzen. Auch hier ist die Maxime: was ist notwendig für Teilnehmende, damit sie die Kurve kriegen und die Ziele erreichen können. 

    Die Initiative „Kurve kriegen“ unterliegt allerdings auch wirtschaftlichen Zwängen, die hier eingesetzten Finanzmittel generieren allerdings einen volkswirtschaftlichen Gewinn. Die Kosten-Nutzen-Analyse der Prognos AG aus dem Jahr 2016 belegt den langfristigen und nachhaltigen Nutzen der Initiative. Konservative Berechnungen zeigen: Den bisherigen Kosten von 5,1 Mio. steht ein Nutzen in Form eingesparter sozialer Folgekosten in Höhe von 21,6 Mio. € gegenüber. Das bedeutet, dass jeder eingesetzte Euro für „Kurve kriegen“ einen Nettonutzen von 3,23 € erzielt. Bereits mit dem langfristigen Erfolg bei vier Teilnehmenden können die Investitionen von rund 5,1 Mio. € volkswirtschaftlich gegenfinanziert werden.

    Das heißt zusammengefasst:

    „Kurve kriegen“ 

    • arbeitet zielorientiert
    • mit klar definierten Aufgaben
    • leistet präventive soziale Arbeit
    • zeigt einen hohen Nutzen für die Betroffenen
    • bietet passgenaue Angebote an
    • nimmt teil und aktiviert bestehende und neue Netzwerke
    • erzielt einen volkswirtschaftlichen Mehrwert
    • macht unendlich Spaß und bedingt die Freude an der sozialen Arbeit
    • Überwindet Mauern zwischen unterschiedlichen Professionen 

    Ich möchte betonen, dass es sich bei der Beschreibung meiner Tätigkeit als PFK um einen sehr persönlichen Eindruck handelt und es durchaus unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten geben kann

    Klaus Fröse in einem Sessel

    Ich glaube immer noch an meine gesellschaftlich kritischen Ideen zur Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen, nur die Wege dahin sind andere geworden. Ein Teil davon ist „Kurve kriegen“. Ich bin stolz ein Teil davon gewesen zu sein und hoffe, dass es politisch nicht zu einem Zankapfel wird und stattdessen auf die Inhalte geschaut wird, weil diese überzeugen, egal wer in der politischen Verantwortung steht.

    Klaus Fröse 

    Sozialarbeiter Kurve kriegen Borken, Trägerverein: Verein sozial-integrativer Projekte Münster

    Dezember 2022