Straftaten von jungen Menschen, insbesondere von Kindern, schockieren, wühlen auf, machen betroffen und werden meistens im Nachgang begleitet von öffentlich geführten Diskussionen, die sich um Strafmündigkeitsgrenzen, „Kuschelpädagogik“ oder härtere Strafen drehen. Dahinter dürfte sowohl politisches Kalkül als auch eine gewisse Hilflosigkeit und ein Gefühl der Ohnmacht stecken. Denn obwohl sich die mit Kriminalität befassten wissenschaftlichen Disziplinen seit Jahrzehnten weitgehend einig darin sind, dass härtere Strafen, und dabei in erster Linie solche, die mit Inhaftierung verbunden sind, keine kriminalpräventive Wirkung entfalten - im Gegenteil gar kriminogen wirken können - kommen diese Forderungen nach aufsehenerregenden Taten in regelmäßigen Abständen und so sicher wie das Amen in der Kirche. 

Nicht selten schwingt darin eine etwas plumpe Kritik an einer sogenannten „Kuschelpädagogik“ mit, die ja nur versuche diese (Täter-)Kinder zu Opfern zu stilisieren und zu verstehen, statt zu bestrafen. Häufig auch ertönt (damit einhergehend) der Schrei nach einer Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze, obwohl auch hier die Experten aus Kriminologie, Soziologie, Jurisprudenz, Psychologie oder Pädagogik zu großen Teilen miteinander übereinstimmen, dass dies in präventiver Hinsicht kaum zielführend ist bzw. staatliche Interventionsmöglichkeiten bereits heute vorhanden wären, um problematischen Entwicklungen gegenzusteuern. 

Darüber hinaus sind Altersgrenzen erstmal willkürlich und normativ gesetzte Kategorien, die uns zwar helfen, um Menschen mit Rechten und Pflichten auszustatten, aber letztendlich Zuschreibungen bleiben, die sich auf idealtypische Entwicklungen beziehen und entsprechend die Realität nur sehr ungenau zu erfassen vermögen. Zu individuell entwickeln sich Menschen, bilden einen inneren moralischen Kompass sowie Steuerungs- und Einsichtsfähigkeiten aus.

Der Psychoanalytiker Tilmann Moser wies 1987 darauf hin, dass es erstaunlich sei, „in welchem Ausmaß die Gesellschaft diesen Kindern Zeit lässt, sich zu Kriminellen zu entfalten“. Solange diese Kinder Opfer seien, kümmere sich kaum jemand. Erst wenn die Gesellschaft sich selbst als Opfer fühle, greife sie ein. „Dann aber so wie verwahrloste und unreife Eltern, die blind zuschlagen, wenn ihnen das Gezeter und die Streiche der von ihnen vernachlässigten Kinder auf die Nerven gehen, wenn das zornige Bedürfnis, sich Ruhe zu verschaffen, zum Hauptmotiv des Eingriffs wird“. 

Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen und im Endeffekt dann auch mit deren Delinquenz zeigt sich also durchaus auch, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, wie fortschrittlich sie beispielsweise denkt und wie differenziert sie handelt. 

Aber dass sich am Antlitz der „Jugend von heute“ immer auch ein „Wertezerrfall“ abzeichne, wissen wir nicht erst seit der griechischen Antike. Dies scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Auch wenn es keine Nachweise dahingehend gibt, dass heutige Kinder- oder Jugendliche delinquenter oder sogar gewalttätiger wären, als die gleiche Altersgruppe früher (Schumann, 2024), hält sich das „früher war alles besser“ - wohl seit Gesellschaften sesshaft wurden - hartnäckig.

Was in den meisten dieser Diskussionen jedoch zu beobachten war und ist; es wird viel über die Kinder- und Jugendlichen, doch selten mit ihnen gesprochen. Und darüber hinaus fehlt oft der kritisch-reflexive Blick auf uns selbst. Sind wir Erwachsenen doch die, die diese Welt prägen, formen und unseren Kindern präsentieren. An Theorien, Erklärungen oder Diagnosen mangelt es wahrlich nicht, doch verlieren wir dabei manchmal vielleicht vor lauter Bäumen den Blick auf den Wald? 

Schauen wir uns mal um, in was für einer Welt wir leben, welche Schlagzeilen die Medien beherrschen und umtreiben und betrachten wir die Themen, die den öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs prägen. Und dann stellen wir uns doch mal die Frage, ob das Verhalten von Kindern und Jugendlichen im Endeffekt nicht auch ein Spiegelbild dessen sein könnte, was sie eben auf dieser Erde vorfinden?

Ein gewisser Erich Kästner hat sich im Jahre 1932 genau darüber Gedanken gemacht und eine auf morbide Art und Weise berührende Ballade geschrieben, die unter die Haut geht. An Aktualität hat diese im Kern sowieso nichts eingebüßt und mal darüber nachzudenken lohnt sich. „Kurve kriegen“ ändert sicherlich auch nicht die Welt, aber vielleicht können durch das gezielte und frühzeitige Hinschauen sowie das passgenaue Intervenieren zumindest gezielte Dosen eines Gegengifts verabreicht werden.

 

Ballade vom Nachahmungstrieb

Es ist schon wahr: nichts wirkt so rasch wie Gift!
Der Mensch, und sei er noch so minderjährig,
ist, was die Laster dieser Welt betrifft,
früh bei der Hand und unerhört gelehrig. […]

[… ] Die Mutter fiel in Ohnmacht vor dem Knaben.
Und beide wurden rasch ins Haus gebracht.
Karl, den man festnahm, sagte kalt: "Wir hab'n
es nur wie die Erwachsenen gemacht."

 

Diese Worte Kästners lassen wohl kaum jemanden kalt und eine Lehre daraus könnte lauten, dass es nur heilsam sein kann, den Blick hin und wieder auf uns selbst und die Welt zu richten, welche wir den Kindern zur Aneignung übergeben oder hinterlassen. 

Nach meiner zweijährigen Arbeit im Steuerungsteam der Initiative „Kurve kriegen“ ist für mich nun die Zeit gekommen zurück in die Heimat zu gehen, aber nicht ohne noch einmal auf die vergangenen Jahre zu schauen und mir in Anbetracht all dessen, was ich aus dieser Zeit und den gesammelten Erfahrungen mitnehmen darf, gewiss zu sein, dass „Kurve kriegen“ einen wichtigen Beitrag dazu leistet, kriminelle Karrieren gar nicht erst entstehen zu lassen und das Thema der Kinder- und Jugenddelinquenz mit der nötigen Ernsthaftigkeit wie Differenziertheit angeht. 

Ist es doch - so vielleicht das Fazit - von zentraler Bedeutung, sich der eigenen Vorbildfunktion bewusst zu sein und durch nachhaltige kriminalpräventive Arbeit Positives für die Gesellschaft zu bewirken und tragfähige Perspektiven für den Einzelnen zu schaffen.

 

Quellen:

  • Kästner, Erich. (1932): Gesang zwischen Stühlen. DVA. Stuttgart / Berlin.
  • Moser, Tilmann. (1987): Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur: zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und psychoanalytischen Theorien des Verbrechens. Suhrkamp. S. 289
  • Schumann, Carsten. (2024): Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze in Deutschland: Eine kriminologische Sicht auf die Diskussion um die Strafmündigkeit für Kinder ab 12 Jahren. Polizei Info Report. Heft 1/2024. 55. Jhg. 9 - 13.